Warum ich diese Reise mache?
Vor kurzem habe ich meinen Kindern alte Tagebuchaufzeichnungen meiner verstorbenen Tante zum Lesen gegeben. Als sie diese Aufzeichnungen schrieb,war sie 16 Jahre alt und etwas jünger als meine Kinder heute.Darin hatte sieversucht, Tage und Erfahrungen an ihre Flucht aus dem damaligen Ostpreußen festzuhalten. Die Angst und die Bedrohungen der russischen Besatzeraus dem Osten trieben damals meine Großeltern mit ihren neun Kindern aus ihrer Heimat gegen Westen. Sie hatten keine andere Wahl, als zu fliehen. Wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte, das wussten sie nicht. Fürmich stellt sich aber die Frage, warum sie sich die Mühe gemachthat, so viele Orte und Erlebnisse auf ihrem Fluchtweg überdieMasurische Seenplatte und das Haff zu beschreiben, wo es doch keine schönen Erinnerungen sind? Es hat nichts mit Herzkino zu tun. Im Gegenteil sindesErfahrungen von Angst und Krankheit auf ihrem Weg, aber auchvonHilfeund Zusammenhalt in der Familie. Man hofftdarauf, dass diese Geschichte ein Happy Endfindet. DieseFluchtreise nimmttatsächlichauch ein gutes Ende, weil die Großfamiliefür einige Jahreeine Bleibeauf einem Gutshof in Schleswig-Holsteinfindetund mitarbeiten darf.In der Nachkriegszeitverstreuen sie sichin Mittel-und Süddeutschland.Meine vier Geschwisterund ichwollen nun noch einmal an den Heimatort meiner Großelternim heutigen Polenfahren undunsauch Stationen desFluchtwegsanschauen, um zu verstehen, was mein Vater, seine Geschwister und unsere Großeltern auf sich genommen haben, damit wir heute leben können. Inihren Tagebucherzählungen und aus den Familiengesprächen der letzten Jahrzehnte wird immer wieder deutlich, dass ihr Glaube ihnen den Weg gezeigt hat. Ihre Hoffnung und Zuversicht wurdenauf eine harte Probe gestellt, aber in allen Biografienzeigte sich, dass der Zusammenhalt und der Glaube an Gott ihnen Kraft gibt.Heute sind die meisten der neun Kinder bereits verstorben, aber diese Reise unternehmen wir auch, um unseren Kindern zu zeigen: Ihr habt eine Zukunft. Vertraut darauf, dass auch in heutigen Krisen Gottmit euch auf dem Weg ist.
Roland Hinzmann, Leitungsteam Pastoraler Raum Bernkastel-Kues