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Mensch sein

Datum:
21. Jan. 2023
Von:
J.-W. Henrich

Was macht uns eigentlich zu Menschen? Vielleicht liegt es in der Eigenart des Jahresanfangs, uns diese elementaren Fragen zu stellen. Vielleicht sind es aber auch die furchtbaren Kriegsbilder des vergangenen Jahres, die vielen Bilder der Unmenschlichkeit, die uns drängen, den Menschen zu suchen, die Menschlichkeit, das Humane in uns und der Welt. Was macht uns zu Menschen? Unser Bewusstsein? Unsere Gedankenschärfe? Unser Erfindungsreichtum? Unser Forschen? Unser Glaube an das Gute? Ganz sicher, all das sind Attribute des Menschseins. Doch vielleicht müssen wir unsere Gedanken gar nicht so weit ausschweifen lassen. Vielleicht liegt ein Geheimnis unseres Menschseins manchmal darin, das Naheliegende zu sehen und zu tun. Unsere Tochter erzählt uns: "Ich stehe in der Fußgängerzone, um mich herum drei Männer des Ordnungsamtes.  Sie behandeln mich wie eine Verbrecherin. Ich bin in der Fußgängerzone Fahrrad gefahren. Ich fühle mich so klein vor ihnen und bin so wütend, dass ich mit den Tränen kämpfe. Sie sehen nicht mich, sondern eine Ordnungswidrigkeit. Auf einmal steht eine Frau neben mir: "Ich bin ihre Freundin," sagt sie zu den Männern. Sie bleibt die ganze Zeit neben mir. Wie hat diese Frau zu mir gefunden? Wie konnte jemand meine verzweifelte Ohnmacht in dieser geschäftigen Fußgängerzone sehen? Wer konnte sehen, dass ich jetzt genau eine Frau wie diese brauche?" Das Naheliegende im wahrsten Sinne, oft ist es genau das, was uns zu Menschen macht. Das Naheliegende sehen und tun. Die Unmenschlichkeit durchbrechen, einem Menschen die Menschlichkeit wiedergeben, oft geschieht es einfach im Naheliegenden. Nicht im Kopf beginnt unser Menschsein, sondern auf der Straße. Nicht unser Wissen, unser Sehen und Wahrnehmen macht uns zu Menschen. Menschsein, wo uns das Leben dazu drängt. Menschsein, wo uns das Leben dazu auffordert. Vor allem aber Menschsein, wo uns das Leben dazu einlädt. Menschsein ist sehen, einander sehen, das Leben sehen, schon die kleinen Unmenschlichkeiten sehen. "Du bist ein Gott, der mich sieht" (Gen. 16,13), der Bibelvers, der über diesem Jahr steht. Ob darin das tiefste Geheimnis unseres Menschseins liegt? Gott sieht mich. Gott blickt mich an als Mensch. Der Gott, der Mensch ist, läßt mich Mensch werden. Ich sehe, weil Gott mich sieht.  Du bist ein Mensch, den Gott sieht. Manchmal ist Menschsein ganz leicht. Und wenn wir es sind, ist es wunderschön. Die Erfüllung. Wir kommen bei uns selbst an. Eine Welt, die in diesem Jahr wieder mehr zu sich findet, Gott schenke es und gebe uns allen die Kraft dazu.

J.-W.Henrich, ev. Pfr. in Traben-Trarbach und Wolf