Kircheneintritt
Kirchen sind Inseln. Ausatmen, aufatmen, entspannen, zu sich kommen, sich finden, wiederfinden. Was macht das Besondere an Kirchen aus? Vielleicht, dass sie das Leben kennen, durch und durch, in allen Facetten, Höhen und Tiefen. Wie ein Mensch, dem man nichts erklären muss, weil er das Leben kennt, alles. Keine Fragen, keine Rechtfertigung, kein Urteilen. Ein Mensch wie eine Insel. Seine Gegenwart reicht, um sich in Momenten gerettet zu fühlen. Etwas davon empfinde ich oft, wenn ich eine Kirche betrete. Gerade wenn ich dort alleine bin, spüre ich, dass sie voller Leben ist, voller Lebensgeschichten, voller Gebete, geflüsterter oder unausgesprochener Worte, denen Menschen oft nur hier Raum und Zeit schenken. Ich setze mich und spüre, dass ich hier nichts erklären muss. Die Stille der Kirche ist wie das Schweigen eines guten, weisen Menschen, der alles kennt. So viel Leben, geborgen unter dem alten Gewölbe, aufbewahrt in den Steinen, Klage- und Glücksmauern. Ich denke an die Kirche unserer Gemeinde. Wie viel geteiltes Leben in nur einer Woche: Am Dienstag nehmen wir Abschied von einer jungen Mutter. Am Samstag feiern wir die Liebe zweier Menschen. Am Sonntag Konfirmation, Aufbruch ins Leben. Schmerz und Glück, Leiden und Liebe, Tränen und Lachen - alles hat hier Platz. Zu fast allem, was ich in meinem Leben erfahre, gibt es Geschichten anderer Menschen, manche viele Jahrhunderte alt. Nie bin ich in der Kirche allein. Auch und gerade, wenn sonst niemand da ist. Das spüre ich. Das suchen viele Menschen, die eine Kirche betreten, ganz allein. Das erleben Menschen manchmal ganz unvermittelt in der Kirche. Aufgehoben mit meinem Leben im Leben vieler, gerade auch mit dem, was ich kaum ausspreche und hier auch nicht aussprechen muss. Ich werde einfach empfangen. Vom Leben empfangen. Von Gott empfangen. Ich darf sein. Wie eine Insel. Gerettet. Ausatmen, aufatmen, entspannen, zu mir kommen, mich finden, wiederfinden. Kircheneintritt.
J.-W. Henrich, ev. Pfr. in Traben-Trarbach