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Die weisen Alten

Datum:
16. Sept. 2023
Von:
Hermann Barth

„Wenn das Wasser zurückweicht, müsst ihr fliehen…“ – diese Worte hatte der Häuptling in Erinnerung. Er hatte sie von den Alten seines Stammes gehört. Und dann geschah es, das Wasser zog sich zurück. Der Häuptling rannte zu seinen Leuten und schrie: „Flieht! Alle! In die Berge!“.

Jeder und jede packte die Kinder und rannte ins Inselinnere. Keinem einzigen Mitglied dieses Stammes wurde auch nur ein Haar gekrümmt, als die große Welle kam.

Eine Reportage unter den vielen über die Flutkatastrophe vor einiger Zeit in Südostasien erzählte diese Begebenheit. Und ich fragte mich: Wo sind unsere alten, weisen Menschen? Wo sind die mit Würde alt gewordenen, die das Wohl unserer Gemeinschaft im Blick haben, hellhörig das reflektieren, was um uns herum geschieht? Wo sind die natürlichen Frühwarnsysteme unserer Gesellschaft? Es gibt sie nicht mehr. Und wenn es sie gibt, beachten wir sie nicht.

„Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren“, wie fremd klingt dieses Zitat aus dem Alten Testament. Wie sehr haben wir uns in einer dem Jugendwahn verfallenen Zeit daran gewöhnt, das Alter als Problem und nicht als Krone eines guten und erfüllten Lebens zu verstehen.

„Wenn das Wasser zurückweicht…“ – ohne die wache Erinnerung eines sensiblen alten Mannes wäre ein ganzes Volk ertrunken.

Hermann Barth, Altrich

Diplom Pädagoge und ehemaliger Geschäftsführer des Caritasverbandes