Bösewichte
Wie sieht der typische Bösewicht aus? Oft ist das ganz klar: Der Gegner ist übermäßig groß, hat eine raue Stimme, trägt dunkle Kleidung, hat dichtes Fell oder lange Krallen. Sicher ist: Er ist völlig anders. Alles an ihm oder ihr deutet von Anfang an darauf hin, dass eine Katastrophe bevorsteht. Meistens ist das Böse in diesem Charakter so stark, dass nichts anderes hilft, außer die endgültige Vernichtung oder Verbannung aus dem Märchenland. Filme dieser Art erhalten ihren Reiz dadurch, dass wir gar nicht anders können, als mit dem Held oder der Heldin mitzufiebern: Das Böse schreit so zum Himmel, dass das Gute um jeden Preis gewinnen muss.
Ich möchte heute einen anderen Konflikt vorstellen: Es geht um einen 17jährigen. Er ist jung, gut gekleidet, attraktiv, stammt aus einer angesehenen Familie, ist von seinem Vater geliebt und al-lem Anschein nach kreativ und intelligent. Kontrahent ist nicht etwa eine gegensätzliche Persön-lichkeit, sondern die Schar seiner elf Brüder. Der junge Mann heißt Josef; der Vater der zwölf Brü-der Jakob – wir befinden uns in der Bibel, im Buch Genesis. Das Drama nimmt seinen Lauf, weil Josef etwas zu perfekt ist. Die Liebe des Vaters für ihn kennt keine Grenzen, die zu den älteren Brüdern aber schon. Neid und Eifersucht schleichen sich ein. Der Kleine muss weg – zum Wohle der elf anderen. Dem Vater überreichen die Brüder einen blutgetränkten Mantel als Beweis für einen tödlichen Unfall des Jüngsten, während dieser als Sklave mit einer Karawane unterwegs ins ferne Ägypten ist.
Im Vergleich zu moderner Unterhaltungsliteratur oder dem neusten Actionfilm kann die Bibel langweilig wirken. Das Böse kommt in ihr nicht nur spannungsreich und spektakulär daher. Statt-dessen wird von Spaltungen innerhalb von Familien, Freundschaften und sogar innerhalb einer Persönlichkeit geschrieben. Gegenüber dem Actionfilm hat das natürlich Nachteile: Wie insze-niert man dann einen spannenden Entscheidungskampf? Wie kann der Held triumphieren und das Böse vernichtet werden?
Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern endet anders. Sie durchbricht das Bedürfnis nach Drama und Tragödie. Sie endet genauso emotional vielschichtig und nuancenreich, wie sie be-gonnen hat. Die Bibel entscheidet sich hier für Versöhnung statt Kampf, für Ausgleich statt Zuspit-zung, für Nachdenklichkeit statt Rechthaberei. Vielleicht hält sie mit dieser Haltung für unsere Zeit und unsere Debatten erst recht die entscheidende Wende bereit.
(Wenn Sie den Ausgang der Geschichte erfahren möchten: Genesis 37-50)
Mathieu Valet, Kaplan in der Pfarrei in Wittlicher Tal St. Anna