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...welch ein Wunder!

Datum:
26. Aug. 2023
Von:
Uschi Fusenig

"Das kann doch nicht wahr sein, da läuft einer nur mit einem langen Hemd und Sandalen bekleidet durch meine Straße und spricht alle Menschen an, denen er begegnet. Danach gehen sie mit einem Lächeln im Gesicht weiter ihres Weges", sagt die alte Dame im Selbstgespräch, als sie wie jeden Tag aus ihrem Fenster nach draußen schaut. Seit vielen Jahren ist sie an ihre Wohnung gebunden; die Welt da draußen ist zu weit weg, denn eine Gehbehinderung ermöglicht ihr nur wenige, schmerzfreie Schritte. Das Fenster und der Blick sind ihre Kontakte mit der Außenwelt .Kopfschüttelnd schaut sie nun zu wie dieser Mann mit den Menschen redet, sie ab und zu sogar berührt, eine Hand auf die Schulter legt, auf den Kopf, auf die Augen. Und die Menschen gehen erleichtert, froh, geradezu glücklich weiter. "Schade", flüstert sie, "wenn ich nur auch zu ihm gehen könnte! Noch besser, er würde zu mir kommen! "Die alte Dame öffnet das Fenster ,gerade steht der Mann vor ihrem Haus. Erstaunt sieht sie ihn an und er schaut zu ihr.Ein leises "bitte" flüstert sie und macht eine einladende Geste. Der Mann versteht sie und geht auf ihr Haus zu. Die alte Dame bemüht sich den Weg zur Haustür so schnell es ihr möglich ist zu überwinden. Mit jedem Schritt wird es ihr dabei leichter ums Herz. Dann klopft es an der Tür, sie öffnet, blickt in gütige Augen dieses Mannes und spricht zu ihm: "Du bist der Mann, der die Menschen glücklich macht, ich habe es gesehen. So sehr wünsche ich mir dieses Gefühl auch einmal wieder empfinden zu dürfen". Der Mann schaut sie an, legt seine Hände auf ihren Kopf und sie spürt eine prickelnde Wärme, die sich Raum nimmt und sie durchflutet vom Kopf bis in ihre Fußspitzen. So fühlt es sich also an das Glücklichsein, denkt sie und ist voller Dankbarkeit für diesen Moment des Erlebens. Der Mann blickt sie an mit wissenden Augen, verharrt einen Moment und ihre Blicke treffen sich, als wären sie alte Bekannte.Mit leise gesprochenen Worten verabschiedet er sich dann: "Bewahre diesen Augenblick in deinem Herzen,du bist nun frei". Die alte Dame schließt die Tür und noch ganz ergriffen geht sie durch ihre Wohnung zum geöffneten Fenster. Doch ein Blick auf ihn ist nicht mehr möglich, er ist bereits außer Sichtweite.Nun steht sie dort und merkt erst jetzt, dass sie ohne ihre Gehhilfe und ohne Schmerzen von der Tür zum Fenster gegangen ist. "Welch ein Wunder", denkt sie erstaunt und schickt ein "herzlichen Dank" hinaus in die Welt, das der Wind sicherlich zu ihm tragen wird.(frei nach Lk 13,11-13)

Uschi Fusenig,

Prädikantin Evangelische Kirchengemeinde Bernkastel-Kues